Die Gezeiten – Der Mythos

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Irgendwo zwischen Forlitz-Blaukirchen und Buttforde vor einigen Jahren.

Windmühlen in Ostfriesland, Foto: Karlheinz Krämer
Windmühlen in Ostfriesland, Foto: Karlheinz Krämer

Apollon, Gott der Dichtkunst und Musik, rumänische Tänze von Bartók pfeifend, streicht durch die Natur. Er streichelt mit seiner großen Hand über die Wallhecken und flüstert mit der Stimme einer zärtlich Mutter, die weiß, dass sie ihr Kind jetzt aus unschuldigen Träumen reißt: „Ostfriesland….pssst…“ Als keine Antwort kommt, etwas energischer: „Hey Ostfriesland!“. Keine Antwort. Dann im dröhnenden Bass: „OSTFRIESLAND!“

Ostfriesland erwacht langsam, fährt die Windräder hoch und krächzt: „Apollon … moin …. Wat wullt du denn?“ Apollons Stimme tönt über die Wiesen wie acht himmlische Posaunen: „Dein kultureller Dornröschenschlaf ist vorbei, meine Verehrte! Es ist kurz vor der Sommersonnenwende. Die Gezeiten sind da!“

Ostfriesland, noch im geistigen Schlummerzustand, antwortet: „Die Gezeiten sind immer da, du Torfkopp.“ Apollon, der neben Schlangen und Dionysos vor allem sprachliche Unkultiviertheit verachtet, zupft sich nervös am Hipsterbart. Denkt: „Wie ich diese knochentrockene Liebenswürdigkeit doch vermisst habe“.

Ostfriesland erklärt sich dann doch: „Mein Gott. Naja …. Mein Gott von vielen. Du solltest es doch wissen. Die Gezeiten sind immer da. Ebbe und Flut, Watt und Meer. Sie sind ich. Ich bin sie. Du weißt schon…“ Apollon, etwas gnädiger gestimmt: „Das stimmt schon. Aber es gibt eine Zeit, zwischen Juni und August, da kommt die größte Naturgewalt zu dir: MUSIK. Es sind die Gezeitenkonzerte, und sie beginnen bald. Darum bin ich hier. Ich bin der Gott der Dichtkunst und Musik. Wo immer Hochkultur und Kunst sind, da bin ich. Ich bin die göttliche Zertifizierungszentrale für musikalischen Hochgenuss, oder kurz: die gZmH.“

Ostfriesland denkt: „Sind alle Götter so aufgeblasene Blödhammel?“. Und fragt laut: „Und wieso kommt solche MUSIK ausgerechnet zu mir? Es gibt genug Philharmonien und Festivals woanders. Ich hab Torfrock und Stadtfest.“

„Weißt du“, antwortet Apollon schmunzelnd, „Zwischen den Göttern läuft eine Wette. Zeus ist Fan von dir und deinen Ostfriesen. Er glaubt, dass sich gerade bei dir Magie und Musik verwirklichen lassen. Naja, einige halten dagegen. Darum hat er dir einen namhaften Künstler geschickt, um die Gezeitenkonzerte zum Leben zu erwecken. Nach zwei Jahren wird bilanziert, wie die Konzerte angekommen sind.“

Ostfrieslands Neugierde ist geweckt. Eine Götterwette! Das ist das Aufregendste seit Otto Waalkes Geburt! Apollon fährt fort: „Wenn die zwei Festivaljahre deine Bewohner und die Kulturlandschaft maßgeblich verändert haben, hat Zeus gewonnen. Die Gezeitenkonzerte gehören dann fest zu dir. Und alle anderen Götter – tja, die müssen zur Strafe ein ganzes Jahr nur Helene Fischer hören!“

Ostfriesland ist atemlos. Das wird ein Sommer. Oder mehrere Sommer? Die Gezeiten, das sind große, unveränderliche Kräfte…

Und während Ostfriesland noch über seine Zukunft rätselt, beugt sich Apollon über die Wallhecken und als ob alle ostfriesischen Orgeln gleichzeitig ihre Register ziehen, werden die Marschen, die Geesten und Moore und alle Fußgängerzonen und Kirchenschiffe in ein glänzendes Licht verwandelt, das die Schönheit und kosmische Herrlichkeit eines A-Dur-Akkordes mit sich trägt. Dann küsst er Ostfriesland endgültig wach. Bevor er verschwindet, zwinkert er uns zu und sagt mit der süßen Stimme einer walisischen Popsängerin: Let the show begin, let the orchestra play!

Ostfriesisches Moor, Foto: Matthias Bergmann
Ostfriesisches Moor, Foto: Matthias Bergmann

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