„Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen!“

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Christian Tetzlaff und Matthias Kirschnereit beim Gezeitenkonzert in Sengwarden, Foto: Karlheinz Krämer
Christian Tetzlaff und Matthias Kirschnereit beim Gezeitenkonzert in Sengwarden, Foto: Karlheinz Krämer

Der Kreis schließt sich. Am 21. Juni, einem verregneten Freitag, starteten die zweiten Gezeitenkonzerte der Ostfriesischen Landschaft in der Lambertikirche in Aurich. Gestern, sieben Wochen später, endeten sie in der Emder Johannes a Lasco Bibliothek. Bei beiden Konzerten sprach Matthias Kirschnereit, künstlerischer Leiter, jenes Motto von Beethoven aus, das dieser seiner Missa Solemnis voran stellte: „Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen!“
Musik ist, wie ich sie verstehe, keine Kopfsache. Sie lässt sich als Wissenschaft betreiben, als Industrie bewirtschaften und als Kunstprodukt untersuchen. Aber sie ist vor allem eines: eine Herzensangelegenheit. Kein Fall für den Kardiologen, sondern eine Kraft, die etwas auslösen kann, was uns bislang noch kein Geheimdienst dieser Welt stehlen kann: Gefühle.

So bleibt am Ende der Gezeiten 2013 mehr übrig als pure Information wie: 6000 Besucher, 32 Konzerte, Namen, Gesichter, Kirchenreihen, Fahrtkilometer, Abendprogramme usw.

Diese sieben Gezeiten-Wochen im Jahr sind etwas Besonderes. Sie stechen heraus aus 52 Wochen, die oft schnell und hektisch vorbeirauschen und in der Erinnerung verblassen. Unvergessliche Stunden können ewig bleiben. Konzerte gehören im Allgemeinen dazu. Jeder weiß, wann und wo er Alfred Brendel, die Rolling Stones oder die aufstrebende Band aus der Nachbarschaft gesehen hat. Wie oft wurden wir noch in diesem Jahr auf die Gezeiten 2012 angesprochen! Man muss nicht immer Dangast nennen. Aber sagen wir einmal: Amaryllis Quartett in Pewsum und jeder, der da war, weiß Bescheid. Ein Brahms Quintett, das so unter die Haut ging, dass ich eine Woche danach nur Brahms gehört habe.

Für das Team sind diese Wochen die intensivsten überhaupt. Schlaf, Wochenende, Urlaub – alles Fremdwörter in dieser Zeit. Aber wenn alles so gut, harmonisch und mit einer Portion Humor funktioniert, gelingt so ein Festival und Künstler, Besucher und das Team fühlen sich heimisch. Am Ende bleibt ein Gefühl von Dankbarkeit. Auch so eine geniale Eigenschaft von Musik.
Dass sie nicht zwischen Alt und Jung unterscheidet, gehört auch dazu. Und ja, man darf, man soll sogar zu Christian Tetzlaff gehen, auch wenn man vielleicht glaubt, dass man „eh keine Ahnung davon hat“. Wenn klassische Musik ein elitärer Verein wird, hat sie verloren. Das ostfriesische Publikum ist zum Glück neugierig und weltoffen. Vielleicht, weil es noch nicht zu verwöhnt ist. Aber vielleicht auch einfach so, und die Künstler spüren das. Alle wollen wiederkommen, das haben sie Matthias Kirschnereit versprochen. Und doch gibt es auch 2014 jede Menge neue Gesichter. Das Name-Dropping beginnt sicher in den nächsten Monaten.

Lilit Grigoryan beim Gezeitenkonzert in Bargebur 2013, Foto: Karlheinz Krämer
Lilit Grigoryan beim Gezeitenkonzert in Bargebur 2013, Foto: Karlheinz Krämer

Für mich persönlich war es auch in diesem Jahr ein Glück, dabei gewesen zu sein und einen winzigen Beitrag leisten zu können. In den letzten vier Jahren, in denen ich in Oldenburg lebe, hatte ich das Glück, oft die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen genießen zu können. Weil dort großartige Musik, außerordentliche Qualität und ein Gesamtprogramm geboten werden, das mitreißend ist.
Aber auch, weil diese Klasse im Nordwesten ihresgleichen gesucht hat. Insofern ist das Jahr 2012 besonders erinnerungswürdig. Weil seitdem dank Matthias Kirschnereit ein Festival in Ostfriesland besteht, das eine kleine, aber exquisite Rolle bundesweit spielt. Weil man nicht mehr zur Berliner Waldbühne fahren muss, um Christian Tetzlaff zu hören. Weil man junge Künstler wie Lilit Grigoryan entdeckt, die in einer intimen ostfriesischen Kirche Musik spielen, die sich in die Seele eingräbt. Weil man sich schon jetzt auf den Sommer 2014 freut.

Julian Steckel beim Gezeitenkonzert in Buttforde, Foto: Karlheinz Krämer
Julian Steckel beim Gezeitenkonzert in Buttforde, Foto: Karlheinz Krämer

Welche Erinnerungen von den Gezeiten 2013 übrig bleiben, überlasse ich getrost jedem einzelnen. Sei es der Bach-Abend mit Julian Steckel, die unendliche Nacht der Gipfelstürmer oder schlicht der Geschmack der Currywurst vom Haase-Catering. Jeder Abend hat seine Geschichte, seine Protagonisten und Besonderheiten. In diesem Fall hat die Langlebigkeit von Informationen im Internet ja auch eine gute Sache: Wer mag, kann alle diese Geschichten hier im Blog nachlesen. Jetzt gleich, oder im Winter, bei einer Tasse Tee und guter Musik. Und bis 2014 hält Wibke Heß Sie und mich hier auf dem Laufenden. Bis dahin!

Als alles begann

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Montag, der zehnte September 2012. Die erste Woche ohne ein Gezeitenkonzert beginnt. Für das Team (und auch für mich, der ja die tägliche Büroarbeit nur aus der Ferne beobachtet hat) ist das fast ungewohnt. Jede Woche eines oder mehrere Konzerte – das bedeutete abgesehen von der Arbeit eben auch Vorfreude und Neugierde auf jedes einzelne Konzert.

„Die ersten Gezeitenkonzerte sind jetzt schon Geschichte“, schreibt Barbara Fischer über das Abschlusskonzert. In Emden herrschte Hochstimmung –  ja, ein bisschen schwappte Pathos durch die Reihen, auf und ab, hin und her und man ließ sich vom allgemeinen Hochgefühl mittragen, dabei gewesen zu sein. Bei den Gezeiten 2012. Als alles anfing. Als Vilde Frang gleich zu Beginn alle spielerisch von den Sitzen holte. Als Matthias Kirschnereit in Bargebur zeigte, wie so eine Schubertsonate zu klingen hat. Und natürlich vier Zugaben! Wie kann man die vergessen?

Das sind so Augenblicke, an die man sich jetzt spontan erinnert. Zum Beispiel die absolute Gelassenheit von Sharon Kam, die in der Pause vom Publikum belagert wurde und dann ohne Erholung den zweiten Teil bewältigte. Oder David Kindt und Helge Aurich, die vor ihrem Konzert erstmals eine Fahrradtour durch Ostfriesland machten. Die Hitze beim Lisbeth Quartett im Pumpwerk, wobei man nicht wusste, ob es an der Klimaversorgung oder der Musik lag.

Der hämmernde Rihm von Vasyl Kotys, das perfekte Brahmsquintett vom Amaryllis Quartett und Annika Treutler. Die Perkussionstücke der Brüder Gerassimez und der stets gute Kuchen in Dangast. Der eine Abend, der auch mal polarisierte und für durchwachsene Rezensionen sorgte. Zuletzt ein dahinrauschender Debussy in Emden, der sich wie eine steile Welle zwischen den Mozartstücken aufstellte.

Egal, ob man nur eines von 20, oder gleich alle 20 Konzerte gehört und gesehen hat: Es bleiben gute Momente übrig und die Liste lässt sich wohl immer weiter führen über die Gezeiten 2012. Damals … als alles begann.

Wir bedanken uns bei unseren Festivalförderern